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Titel
Lernort Auschwitz. Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980–2019


Autor(en)
Kuchler, Christian
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jensen, Gedenkstättenpädagogik, KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Lehrer:innen und Gedenkstättenpädagog:innen haben erfahrungsgemäß häufig unterschiedliche Auffassungen von dem, was Gedenkstättenbesuche bei Schüler:innen bewirken können und sollten. So entsteht ein Spannungsfeld, dem es sich gemeinsam zu stellen gilt. Forderungen danach, Gedenkstättenbesuche verpflichtend zu machen, um Antisemitismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vorzubeugen, die aus schulischen, politischen und gesellschaftlichen Kreisen immer wieder laut werden, stoßen bei Gedenkstätten und in der Geschichtswissenschaft auf klaren Widerstand.1 Nun hat der Geschichtslehrer und Didaktiker Christian Kuchler eine Studie vorgelegt, die Besuche in Auschwitz sowie deren Auswirkungen auf Schüler:innen beleuchtet. Deutlich distanziert er sich von der Forderung nach Pflichtbesuchen in Gedenkstätten und fragt kritisch, „ob es tatsächlich so einfach ist, die inzwischen klassisch gewordene Forderung Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1966 zu erfüllen. Kann bereits der einmalige Besuch des ehemals größten NS-Lagers und der dort heute existierenden Gedenkstätte einen grundlegenden Beitrag dazu leisten, dass 'Auschwitz nicht noch einmal sei'?“ (S. 11)

Kuchler hat bereits viele Exkursionen mit Schüler:innen in KZ-Gedenkstätten unternommen, nicht wenige davon nach Auschwitz. Immer wieder beschlichen ihn einerseits Zweifel am Lernerfolg solcher Fahrten, andererseits sei da immer wieder die Hoffnung gewesen, diese Exkursionen könnten doch eine langfristige Wirkung auf Schüler:innen haben. So entstand die Idee einer Studie, die vorwiegend auf Quellenbeständen der Stiftung Erinnern ermöglichen sowie der Bosch-Stiftung und des Deutsch-polnischen Jugendwerks basiert, die zu unterschiedlichen Zeiten von ihnen geförderte Fahrten dokumentierten und Selbstzeugnisse von Schüler:innen während und nach der Exkursion nach Oświęcim erhoben. Es fehle bisher an Forschungsarbeiten zu grundlegenden Fragen der Rezeption von Gedenkstättenbesuchen, konstatiert Kuchler in seinem ausführlichen Kapitel zum Forschungsstand. Ziel seiner Studie sei also, zu klären, „ob sich diese vielfältigen, dem Umgang mit außerschulischen Lernorten auch für das historisch-politische Lernen zugeschriebenen Potenziale bei einer schulischen Exkursion nach Auschwitz nachweisen lassen“ (S. 27). Quellenkritisch merkt er aber an, dass Reaktionen von Schüler:innen im Rahmen einer geförderten Gedenkstättenfahrt durchaus die Gefahr in sich trügen, statt ehrlicher Auffassungen sozial Erwünschtes zu schreiben. Auch eigene Erfahrungen mit den Reaktionen seiner Schüler:innen bei ähnlichen Exkursionen bezieht Kuchler ein.

Zunächst beleuchtet er die Geschichte des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau und den Einfluss der jeweiligen politischen Situation im Polen der Nachkriegszeit auf deren Entwicklung. Er nimmt die schulischen Auschwitz-Fahrten aus beiden deutschen Staaten in den Jahren 1980 bis 1991 sowie deren unterschiedliche Intentionen ebenso in den Blick wie die Entwicklung der Reisen von 2010 bis heute. Dabei beleuchtet er die Erwartungen der Reisenden vor ihrer Ankunft sowie deren Eindrücke während und nach dem Besuch in Auschwitz. Darüber hinaus erfragte er selbst die rückblickenden Einschätzungen von Schüler:innen dreier Schulen mit zeitlichem Abstand zu der Reise.

In einem kurzen Exkurs werden dann mit Blick auf die Corona-Pandemie und die Unmöglichkeit zu reisen Möglichkeiten und Grenzen digitaler Gedenkstättenbesuche als Alternative beleuchtet (u.a. Nutzung von Virtual Reality und Augmented Reality). Überrascht stellt Kuchler fest, dass trotz der hohen digitalen Affinität junger Menschen heute die Befragten einen analogen Gedenkstättenbesuch am historischen Ort in jedem Fall einem digitalen Besuch vorzögen. Das Buch endet mit sieben Vorschlägen für eine neue Schwerpunktsetzung von Gedenkstättenfahrten.

Kuchler thematisiert in seinem Buch viele Aspekte, die immer wieder auch von Gedenkstättenpädagog:innen kritisch angemerkt werden: Auschwitz sei zu einer Ikone geworden, die für viele Menschen stellvertretend für „Konzentrationslager“ und „Endlösung“ stehe. Nicht zuletzt geprägt von Spielfilmen wie „Holocaust“ (1978) oder „Schindlers Liste“ (1993) werde das dort Gesehene von Schüler:innen häufig quellen-unkritisch generalisiert und von vielen Lehrkräften im Unterricht auch nicht dekonstruiert. Dies beginne schon damit, dass viele Lehrkräfte ihren Schüler:innen vor Exkursionen in Gedenkstätten mitteilten, man werde „ein KZ besuchen“, was bei vielen jungen Menschen Beklemmung und Angst, aber auch Neugier auslöse. Die Gedenkstätten haben aber natürlich kaum Ähnlichkeit mit den in den Filmen gezeigten Orten. Irritation und Enttäuschung sind vorprogrammiert.

Kuchler beleuchtet die Pädgogik in der Gedenkstätte Auschwitz, die er zugespitzt „Frontalvortrag vor historischer Kulisse“ nennt, kritisch: Ein Besuch im ehemaligen Stammlager Auschwitz I sei nur nach Anmeldung möglich, eine eigenständige Erkundung ohne Guide nicht vorgesehen. Lehrkräfte hätten keinerlei Einfluss auf die Ausgestaltung der Rundgänge, die Routen seien gedenkstättenseitig festgelegt. Dies, so konstatiert Kuchler richtig, hebe sich von der pädagogischen Arbeit der meisten anderen Gedenkstätten ab. Zudem habe sich an vielen Präsentationen vor Ort seit Jahrzehnten nichts geändert, so Kuchler mit Hinweis auf Habbo Knochs Arbeit „Die Tat als Bild“ 2. „Bis heute gilt er [Block 5 im ehemaligen Stammlager Auschwitz I] berechtigterweise als Galerie des Grauens. Die Besucherinnen und Besucher stoßen auf ‚Tonnen‘ von Haaren, Tausende Paar Schuhe, Unmengen an Prothesen, Brillen, Zahnbürsten und auf namentlich gekennzeichnete Koffer, die inzwischen in Vitrinen aufbewahrt, den Eindruck von Glassärgen vermittelnd, präsentiert werden. Als die vielleicht bekanntesten Exponate des staatlichen Museums dokumentieren sie das Schicksal der Ermordeten auf eine außerordentlich drastische Weise.“ (S. 117) Viele der befragten Schüler:innen schilderten dies als große emotionale Überforderung.

Kritisch sieht Kuchler auch das Ansinnen vieler Lehrkräfte, den Besuch einer Gedenkstätte mit der Intention zu verbinden, Antisemitismus vorbeugen oder gar antisemitische Schüler:innen vom Gegenteil überzeugen zu können. Er zitiert den Leiter der Pädagogischen Dienste Matthias Heyl von der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, der diesem Ansinnen eine klare Absage erteilt: „Im Idealfall sollten Jugendliche mehr über das Judentum und Jüdinnen und Juden wissen als nur, dass sie zum Ziel antisemitischer Verfolgung wurden. [...] Wenn die vorrangige Fokussierung auf einen von Antisemiten definierten Objektstatus aufgegeben würde, kämen auch ihre eigenen Erfahrungen eines gelebten jüdischen Lebens endlich zum Tragen. [...] Antisemitismuskritische Bildung, die die jüdische Perspektive und Erfahrung, dass jüdisches Leben selbst unter den Bedingungen schwerster antisemitischer Verfolgung nie aufgehört hat zu existieren, nicht zu integrieren wüsste, wäre keine.“3

Die Ergebnisse von Kuchlers Studie sind für Gedenkstättenmitarbeiter:innen wenig überraschend: Der historische Ort und seine Auswirkung auf die Besuchenden wird vor der Ankunft häufig komplett überhöht imaginiert, es gibt extrem hohe Erwartungen an das, was mit ihnen dort passieren wird: „Letztlich erwarten sich die Jugendlichen nichts weniger von ihrer Schulexkursion als eine Erfahrung, die ihr Leben verändert und sie zu ‚besseren‘ Menschen werden lässt.“ (S. 141) Eine kritische Hinterfragung der „Authentizität“ des heutigen Geländes erfolge dabei meist ebenso wenig wie ein kritisches Hinterfragen dessen, was die Guides erzählen. Die meisten Schüler:innen seien beeindruckt, sprachlos, betroffen und forderten als Konsequenz, Auschwitz müsse der Nachwelt als Mahnmal erhalten bleiben. Zudem benennen sie eine tiefe, innere Wut gegenüber den Tätern.

Kuchler zitiert in seinem Fazit die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger mit den Worten: „Gewiss, es zieht auch welche, die ohne Touristenneugier und Sensationslust kommen, zu den alten Lagern, aber wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl im Gepäck schon mitgebracht.“4 Und er fügt hinzu: „Zugespitzt formuliert ließe sich sagen: Im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau stehend, erschien den Jugendlichen ‚alles größer als auf Bildern und Erzählungen‘. Damit erreicht es der Besuch, die Schülerinnen und Schüler, die sich in den hier untersuchten Berichten eintrugen, von der Tatsächlichkeit des am historischen Ort Geschehenen zu überzeugen. Sicher einer der größten Erfolge der schulischen Fahrten.“ (S. 179)

Es ist zu wünschen, dass viele Lehrkräfte dieses Buch lesen. Die von Kuchler präsentierten sieben Vorschläge für die Zukunft von Gedenkstättenbesuchen (1. Historischer Ort im Mittelpunkt / 2. Es muss nicht immer Auschwitz sein / 3. Ängste vermeiden / 4. Emotionen sinnvoll nutzen, Zeit für Wahrnehmung und Austausch gewähren / 5. Internationale Dimension des Gedenkens / 6. Täter nicht vergessen / 7. Gedenkstättenexkursionen als integraler Teil des schulischen Geschichtsunterrichts) sind in Gedenkstätten in Deutschland längst Alltag und dort auch unumstritten. Viele Gedenkstätten präsentieren auf ihren Homepages Tipps für Lehrkräfte bzgl. der Vorbereitung im Unterricht bzw. dessen, was Gedenkstättenbesuche leisten können und was eben nicht. 5 Nicht wenige Gedenkstätten bieten darüber hinaus Lehrerfortbildungen an, um genau diese Aspekte zu diskutieren.

Das Buch von Christian Kuchler kann hier als Brücke dienen, die – gemeinsam von Lehrer:innen und Gedenkstättenpädagog:innen beschritten – Schulbesuche in Gedenkstätten von den ihnen zugeschriebenen Erwartungen befreien und Platz für echte Annäherungen von Schüler:innen an die NS-Geschichte möglich machen können. Ohne moralischen Druck und Überwältigungspädagogik.

Anmerkungen:
1 Beispiele (bei allen letzter Zugriff 19.10.2021, 10.00 Uhr)
https://www.evangelisch.de/inhalte/159601/23-08-2019/wissenschaftler-pflichtbesuche-kz-gedenkstaetten-sind-keine-loesung
https://www.welt.de/politik/deutschland/article196444521/Holocaust-Experten-gegen-Pflicht-Besuch-von-Gedenkstaetten.html
https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-um-pflichtbesuche-in-kz-gedenkstaetten-warnung-vor.1008.de.html?dram:article_id=408206
https://taz.de/Gedenkstaetten-Leiter-ueber-Pflichtbesuche/!5472361/
https://www.moz.de/nachrichten/brandenburg/kz-gedenkstaetten-brandenburger-gedenkstaetten-lehnen-pflichtbesuche-von-schuelern-ab-49326116.html
https://www.br.de/nachrichten/bayern/holocaust-gedenktag-ist-der-pflichtbesuch-im-kz-sinnvoll,Qhr3rdR
2 Habbo Knoch, Die Tat als Bild, Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 774.
3 Matthias Heyl, Was können bundesdeutsche KZ-Gedenkstätten zu einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit beitragen, in: „Du Jude“ Antisemitismusstudien und ihre pädagogischen Konsequenzen, S. 253–261, Bonn 2020. S. 257ff.
4 Ruth Klüger, weiter leben, Eine Jugend, München 2019, S. 75.
5 Beispiele (bei allen letzter Zugriff 19.10.2021, 10.15 Uhr):
Neuengamme: https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/fileadmin/user_upload/bildung/schulklassen/vorbereitung/Vorbereitung_des_Gedenkstaettenbesuches.pdf
Sachsenhausen: https://www.sachsenhausen-sbg.de/bildungsangebote/vor-und-nachbereitung-des-gedenkstaettenbesuchs/
Buchenwald: https://www.buchenwald.de/1352/

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